Abschuss eines Bombenflugzeuges am 10.04.1945 - Was geschah mit der NA-240?

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Was geschah mit der NA-240?

Insgesamt hatte die Gruppe auf dem Hinflug nach Leipzig eine Strecke von etwa 1.220 km zurückgelegt, der Rückflugweg betrug 1.198 km. Also hatten die unbeschädigten Flugzeuge auf ihrem Flug eine Strecke von 2.418 km absolviert.

Bisher wurde angenommen oder besser gesagt spekuliert, dass die NA-240 bis kurz vor Leipzig flog, dann umdrehte und auf dem Rückflug in der Nähe von Benndorf durch Flak abgeschossen wurde. Unterlagen über die Flugroute standen damals nicht zur Verfügung und Augenzeugen, die sich nach einem Aufruf in der LVZ meldeten, machten recht unterschiedliche Angaben. So rechneten wir uns aus, dass die NA-240 nach ihrer Beschädigung in Richtung Westen nach Halle abdrehen wollte, um die zu diesem Zeitpunkt sich bereits dort befindenden amerikanischen Truppen zu erreichen. Da sie aber zu schwer beschädigt war, wäre sie dann bei Zaasch abgestürzt. Ein weiterer Grund für unsere Vermutung waren die fehlerhaften Angaben des einzigen Überlebenden des Absturzes, Maxwell Hibberd. Er gab die Abschussstelle mit "nordöstlich von Delitzsch" an. Seinen Irrtum kann man damit erklären, dass es dunkel war, er keine direkte Sprechfunkverbindung zu seinen Kameraden hatte und außerdem "verkehrt herum" mit dem Rücken in Flugrichtung flog. Außerdem stand er nach dem Abschuss unter Stress, schließlich war er der einzige Überlebende seiner Crew.

 Mittlerweile stehen aber originale Unterlagen des Australischen Nationalarchives zur Verfügung. Darunter auch das "Operation Records Book" der 462. Squadron der RAAF. Hier sind alle Einsätze genauestens dokumentiert und erläutert. So begleiteten in der Nacht vom 10. zum 11. April 1945 Flugzeuge der 462. Squadron Bombenangriffe auf Plauen, Berlin und Leipzig. Die NA-240 war der 5. Bomber-Gruppe zugeteilt und flog nach denselben Koordinaten bis zum 6. Kontrollpunkt bei Zörbig. Das lässt nur den Schluss zu, dass sie auf diesem Streckenabschnitt abgeschossen wurde. Bekanntermaßen befand sich bei Zörbig eine Flak-Batterie. Hibberd stellte laut seinen Aufzeichnungen fest, dass die Maschine gegen 22:00 Uhr mehrere Treffer durch Flak erhielt. Unmittelbar danach stürzte die Maschine über Zaasch ab. Zaasch befand sich etwa 4 bis 5 km östlich der vorgegebenen Flugroute. Geschwindigkeit, Flughöhe, Beschädigung und letztlich die Aussagen von Hibberd unterstützen diese Tatsache.

Es ist allerdings davon auszugehen, dass Hibberd in seinem Bericht unbewusst mit 22:00 Uhr die falsche Zeit angegeben hat. Laut Operation Records Book flogen an erster Stelle bei dem Bombenangriff auf Leipzig Pfadfinder der 8. Bomber-Gruppe und markierten das Ziel in Leipzig. Acht Mosquitos der 109. und 105. Squadron markierten aus einer Höhe von 30.000 Fuß (mehr als 9.000 Meter) mit gelben Zielindikatoren den Wahrener Bahnhof für die angreifenden 66 Lancaster. Das war genau 22:48 Uhr. Die NA-240 und die Bomber folgten erst nach den Pfadfindern. Deshalb dürfte die Uhrzeit des Abschusses nicht gegen 22:00 Uhr sondern erst 23:00 Uhr gewesen sein. Das würde dann auch eher den Vorgaben des Flugplanes entsprechen.

Dadurch ist eindeutig nachgewiesen, dass die NA-240 niemals in die Nähe von Leipzig gelangte, sondern bereits auf dem Hinflug abgeschossen wurde. Da der letzte Teil der Anflugroute von Zörbig über Brehna, vorbei an Klitschmar, Zwochau, Wiedemar und Freiroda nach Leipzig führte, können hier auch die unterschiedlichen Augenzeugenberichte in einen Zusammenhang gebracht werden. Die Augenzeugen gaben an, bei Brehna, Serbitz, Delitzsch und Zwochau ein brennendes Flugzeug ausgemacht zu haben. Diese Orte lagen alle direkt auf oder neben der Flugroute. Gerade bei Dunkelheit ist es aber schwer, die Entfernung eines brennenden Flugzeugs auszumachen, zumal jegliche Bezugspunkte fehlten. Ergänzt werden soll an dieser Stelle, dass in dieser Nacht vom 10. zum 11. April sieben Lancaster der 5. Bomber-Gruppe abgeschossen wurden.

Das Operation Records Book enthält detaillierte Angaben zu allen durchgeführten Aufgaben der 462. Squadron, zu personellen Zusammensetzungen, Bewaffnungen sowie Ausrüstungen und ist eine Art Logbuch für alle Einsätze. Unter dem 10.04.1945 ist auf der Seite 322 folgendes registriert:


"Flugzeugtyp: Halifax III, NA-240 unter Captain Ball und weiteren 7 Crew-Mitgliedern

Startzeit: in Foulsham um 19:10 Uhr

Zeit der Rückkehr: vermisst

Details des Feindfluges: Das Flugzeug startete zu einer Schutzpatrouille zusammen mit der Hauptbombergruppe nach Leipzig – kehrte von der Operation nicht zurück. Es gibt keine Nachrichten seit ihrem Start und die Crew wird als vermisst gemeldet."

Am 11. April 1945 schrieb der Kommandierende Offizier der 462. Squadron, Scharrer, an das Luftfahrtministerium in London folgende Meldung:


"Die Halifax III, Nummer NA-240, geführt und geflogen von Pilot Officer Ball, war zu einer Patrouille nach Leipzig in der Nacht vom 10. zum 11.04.1945 eingesetzt. Das Flugzeug startete um 19:10 Uhr und führte 7.000 Schuss 0.303-Munition sowie zwei 500-lb-Bomben Mk. 4 mit sich. Außerdem hatte es 2.460 Gallonen Treibstoff für eine Flugzeit von 10 Stunden bei sich. Es wurde nichts von dem Flugzeug gehört."

In einem weiteren Schreiben wurde dann ergänzt:


"Es handelte sich um die Operation 51. Die Halifax III mit der Seriennummer NA-240 und dem Rufzeichen Z5-V mit Motoren vom Typ Hercules XVI kehrte von der Operation nach Leipzig nicht zurück. Alle werden vermisst. Zu ihrer Ausrüstung gehörte:

    2x 500-lb-Bomben vom Typ GP MK. 4
    H2S-Radar
    GEE-Navigation
    ABC-Ausrüstung
    Pipe Rack
    Fishpond
    Carpet"

Es folgen die Anschriften der nächsten Angehörigen der Crew.

Im Tagebuch der 462. Squadron Foulsham ist auf der Seite 68 unter dem 10.04.1945 folgender Eintrag zu finden:


"10 Flugzeuge wurden für die Operation aufgeboten, 3 für Radar-Störmaßnahmen und der Rest für ein Täuschungsmanöver mit Windows (Düppel). Die 3 RCM-Halifax (RCM=Radar Counter Measures) flogen an der Spitze des Hauptbomberstroms bis kurz vor Leipzig. Sie sollten die feindlichen Jäger nach Berlin locken, wo englische Jäger schon warteten. Dadurch sollte die Hauptgruppe freien Flug bis Leipzig haben. Zwei Flugzeuge, die NA-240 und PN-426 operierten mit der 5. Bomber-Gruppe zusammen. Unglücklicherweise kehrte das Flugzeug NA-240 unter Captain Ball von der Operation nicht zurück. Heute erhielten wir einen Bericht vom Oberkommando, dass die letzte Nacht eine der erfolgreichsten Operationen war, an der die 100. Bomber-Gruppe je teilgenommen hatte."

Die 462. Squadron war die einzige innerhalb des britischen Bomber Command, die die Zahl ihrer Einsätze im April 1945 gegenüber dem Vormonat noch erhöhen konnte.

Die folgenden Angaben basieren auf Aussagen und Briefen von Hibberd und entsprechenden Protokollen der englischen bzw. australischen Geheimdienste. Teilweise Widersprüche oder Ungenauigkeiten sind auf Hibberds Nichtkenntnis der deutschen Sprache und die Tatsache, dass er nach dem Abschuss unter Schock stand und schwer verletzt war, zurückzuführen.


"Gegen 22:00 Uhr wurde das Flugzeug im Nordosten von Leipzig durch die Flak getroffen. Innerhalb weniger Sekunden erhielt das Flugzeug drei Treffer: im Steuerbordflügel, in der Rumpfmitte und direkt neben der Kanzel des Heckschützen."

Hibberd konnte den Blitz des Einschlages noch erkennen. Der Einschlag erfolgte in etwa 14.000 Fuß (4.270 Meter) Höhe. Das Flugzeug wurde herumgeschleudert. Fast automatisch gelang ihm der Ausstieg aus der beschädigten Kanzel. In voller Panik bemerkte er, dass Flammen, Funken und glühende Metallteile des brennenden Flügels an ihm vorbeiströmten. Es entstand eine Situation, in der der natürliche Drang zu überleben stärker als die Panik war. Er fiel hinaus in den Luftstrom und nach einigen Schwierigkeiten mit dem verrutschten Fallschirm gelang es ihm, diesen aufzureißen. Mit einem gewaltigen Stoß bremste ihn der Fallschirm ab, dann wurde es "Nacht" um ihn. Er war ohnmächtig geworden und konnte sich später an vieles nicht mehr erinnern.

In der Morgendämmerung des 11. April erwachte er gegen 5:00 Uhr und bemerkte, dass er in einem Weizenfeld lag. Sein Fallschirm war immer noch angeschnallt. Ängstlich und verwundet versteckte er sich bis zum Abend in einem Strohhaufen. Von seinem Flugzeug und seinen Kameraden war nichts zu sehen. Aber mit seinen Verletzungen konnte er auf keinen Fall hier liegen bleiben. Schließlich ging er einfach los. Vor Schmerzen und mit nur noch einem Stiefel bekleidet schleppte er sich immer weiter. Er litt unter Blutverlust durch eine Kopfverletzung und Verletzungen an Oberschenkel und Knöchel. Als er an einem Bauernhaus ankam, bekam er durch den Bauer und seine Tochter medizinische Hilfe. Wir vermuten heute, dass es sich um den Bauern Krone aus Zaasch handelte. Leider blieb die spätere Suche nach ihm oder seiner Tochter, um sie als Augenzeugen zu befragen, ergebnislos. Der Bauer Krone wurde 1947 durch die "Vermissten-Nachforschungs- & Untersuchungsstelle Nr. 4 der RAF" als Zeuge befragt.

Der Bauer informierte dann die Polizei. Etwas anderes dürfte ihm auch gar nicht übriggeblieben sein, denn das Verstecken abgeschossener Flieger wurde schwerstens bestraft.

Die folgenden Angaben beruhen auf privaten Aufzeichnungen und Briefen sowie späteren Aussagen von Hibberd.

Am Abend des 11. April gegen 23:00 Uhr erschienen dann uniformierte Personen und nahmen ihn mit nach "Delitch" ins SS-Quartier. Die Angehörigen, die Hibberds Briefe und Aufzeichnungen nach dessen Tod 1988 fanden und erstmals Einzelheiten über den Abschuss der Maschine erfuhren, zweifeln diese Aussagen allerdings selbst an. Sie vermuten, dass Hibberd die deutschen Uniformen nicht unterscheiden konnte. Er berichtete zwar immer von der SS, aber wahrscheinlich gehörten für ihn alle Deutschen mit Uniform zur SS. Auch das SS-Hauptquartier kann nur die lokale Polizeiwache gewesen sein. In Delitzsch befand sich die Polizeiwache im Rathaus. In einem Brief ans australische Kriegsrentenamt sagte Hibberd aus, dass der verhaftende Offizier am Bauernhof viel schrie und eine Waffe herumschwenkte. Auch in Delitzsch schrie er wiederholt Hibberd an, weil der es ablehnte, die Fragen zu beantworten. Die deutschen Offiziere waren sehr verärgert. Er dachte, dass er erschossen werde. Vom Schicksal der anderen Besatzungsmitglieder hat Hibberd bis ans Ende seines Lebens nichts erfahren. Das erklärt auch die verschiedenen Aussagen, die er nach Kriegsende gegenüber der Air Force und den Geheimdiensten machte. Die Zeit vom 11.04.1945 bis 13.04.1945 verbrachte Hibberd in einer der Gefängniszellen im Delitzscher Rathaus.

 Am 13.04.1945 marschierte er unter Bewachung zum Delitzscher Flugplatz (gemeint ist damit der ehemalige Militärflugplatz bei Spröda). Hier wurde er wieder befragt, ob er einer Jagdfliegermannschaft oder Bombermannschaft angehört hatte. Es ist zu vermuten, dass es auch hier sprachliche Barrieren gab. Außerdem hatten Bomber vom Typ Lancaster und Halifax normalerweise sieben Crew-Mitglieder an Bord. Hibberds Crew bestand aber aus acht Mitgliedern. So waren die deutschen Behörden verwirrt, weil sie bereits sieben Besatzungsmitglieder an der Absturzstelle in Zaasch gefunden hatten.

Am 14.04.1945 wurde Hibberd von Spröda in das Oflag Colditz gebracht. Dabei handelte es sich um ein Gefangenenlager für Offiziere der westlichen Alliierten. Dort blieb er aber nur eine Nacht und schlief im äußeren Burghof. Wahrscheinlich hatten die deutschen Behörden angenommen, dass er ein Offizier war. Als sich der Irrtum herausstellte, wurde er unter Bewachung zu Fuß in das Stalag Oschatz (Stammlager für Kriegsgefangene) verlegt. An der Verlegung waren auch andere Kriegsgefangene beteiligt. Begleitet wurden sie von zwei Wachen. Einer war älter und schon im Ersten Weltkrieg Kriegsgefangener in Großbritannien. Er beherrschte auch die englische Sprache und schützte seine Gefangenen vor einem jüngeren Wachmann, der ziemlich aggressiv war. Hibberd wusste aber nicht, zu welcher Truppe diese beiden Wachen gehörten.

In einer Stadt verwendete der ältere Bewacher sogar seine Pistole, um die Gefangenen vor einigen Zivilisten zu schützen, die sich an den "Terrorfliegern" rächen wollten. Der Wachmann besorgte auch Nahrung von Zivilisten auf dem Marsch.