Häuserbuch der Stadt Delitzsch - II.5. Die sozialen Verhältnisse in der Neustadt und in den Vorstädten

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Die sozialen Verhältnisse in der Neustadt und in den Vorstädten

Konnten die Besitzer in der ersten Neustadtanlage zwischen Pfortenstraße und Breitem Tor schon um 1400 volle Bürgergerechtsame mit dem Braurecht erwerben, so ist dies vor allen Dingen auf die sich im vollen Ausbau befindende Wehranlage, die für die Verteidigung der Stadt notwendige Vierteleinteilung und Bürgerwehr zu sehen. Mauer und Graben trugen damit nicht nur wehrtechnischen, sondern auch besitzrechtlichen und symbolischen Charakter. Eine Entwicklung wie z. B. in Eisleben und Wernigerode, wo sich eine Neustadt mit selbständigen Rat, Rechten und Privilegien entwickeln konnte, konnte sich in Delitzsch nicht vollziehen. Diese Entwicklung ist für vergleichbare landesherrliche Städte in Sachsen ähnlich wie in Delitzsch. Bis zu Beginn des 16. Jh. waren Handwerker auch in der Neustadt das tragende Element, wobei auf Grund bestimmter Gefahren hier sehr artspezifische Berufsgruppen in Erscheinung treten. Zu nennen sind hier vor allen Dingen die Töpfer, Gerber, Schwarz-und Schönfärber. Nun setzt mit der zunehmenden sozialen Differenzierung auf dem Land eine langsam aber stetig steigende Zuwanderung von Hilfskräften in die Stadt ein. Das dies teilweise unverträgliche Ausmaße annahm zeigt deutlich die vom Landesherrn erteilte Genehmigung zum Bau zweier Häuser an Andreas Montanus hier auf dem Damm in Delitzsch im Jahr 1617. Er soll in beide Häuser ausdrücklich Handwerker setzen und kein Gesinde. Mit dieser Zuwanderung von sogenannten Tagelöhnern und Gesinde wuchs der Bedarf an Wohnraum, für diesen wiederum blieb nur in der Neustadt bzw. später in der Grünstraße Platz. Das soziale Gefüge verschob sich im Gegensatz zur Altstadt immer mehr nach unten. Nichthandwerker stellen kurz vor den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges den Hauptanteil der neustädtischen Bevölkerung.
Besitzverhältnisse im Vergleich zwischen Altstadt und Neustadt am Beispiel des Jahres 1552.
Stadtviertel: Durchschnittlich zu versteuernder Besitz

1. Viertel/Altstadt 119, 47 Schock
2. Viertel/Altstadt 135, 78 Schock
3. Viertel/Altstadt 101, 67 Schock
4. Viertel/Altstadt 98, 01 Schock
Neustadt 25, 31 Schock
Rosental 24, 5 Schock
Damm 21, 75 Schock

Hier zeigt sich deutlich, daß der durchschnittlich je Haushalt zu versteuernde Besitz in der Altstadt um das 4 bis 5 fache höher lag. Das diese ökonomische Macht partizipiert mit, vorsichtig gesagt, politischer Macht verdeutlicht sich hier in der Stadt an folgenden Ereignissen.
1465 Die Bewohner der Neustadt suchten bei den Fürsten auf dem Wege der Beschwerde wegen des Rechtes zum Bierbrauen nach. Sie wurden aber für immer abgewiesen. 1528 Hans Drache büßte mit 30 Groschen weil er in der Neustadt eine Gastung anlegen wollte. 1536 Ambrosius Rein, der in der Vorstadt eine Gastnahrung trieb, ward, weil der Vorstadt dieses Gewerbe nicht zukam, mit 20 Groschen Strafe belegt. 1541 Bisher hatten die Vorsteher der Neustadt das Wächtergeld der Vorstadt eingenommen und an die Kämmereikasse geliefert. Weil sich aber Unordnungen fanden, übernahm der Rat die Einnahme selbst. Vier wichtige Faktoren unterscheiden die Altstadt mit ihren auch vom Landesherrn bestätigten Privilegien von der Neustadt.
1. Die Wahl eines eigenen Rates bzw. gleichberechtigter Vertreter in einem gemeinsamen Rat. Das war hier in Delitzsch nur sehr eingeschränkt für die Neustadt möglich. Die Handwerker jedes Viertels in der Altstadt hatten einen Vertreter in Person eines Viertelmeisters. Die Neustadt konnte erstmals 1456 einen sogenannten Viertelherrn bestimmen. Bis 1541 konnten die Vorsteher der Neustadt die Einnahmen selbst verwalten und rechen schaftspflichtig abliefern, nun wurden sie der Aufgabe kommunaler Selbstverwaltung entledigt. Hierbei ist die Parallelität zur städtebaulichen Entwicklung bemerkenswert.
2. Das Braurecht. Eine wichtige Säule, die durch die sogenannte Biermeile, einen konkurrenzfreien Absatzmarkt sicherstellte und so nicht unwesentlich zum Wohlstand der Stadt beitrug.
3. Das Marktrecht. Bestrebungen der Neustadt, vielleicht auf dem zentral und verkehrsgünstig gelegenen Roßplatz, einen Markt abzuhalten sind nicht überliefert. Nur einmal wird für den Marienplatz der Name Frauenmarkt gebraucht.
4. Das Recht zur Anlegung von Gasthöfen. Die zwei oben genannten Versuche stellen nur einen Teil der vielfach in der Neustadt gemachten Versuche zur Anlegung eines solchen dar. Erstmals konnte 1660 die offizielle Bestätigung für einen Gasthof in der Neustadt erhalten werden. Noch bis in das 19. Jh. versuchte der Rat massiv die Neuanlage von Gasthöfen in der Neustadt und den Vorstädten zu verhindern.
Dieser ausgeprägte Gegensatz spricht für eine ausgesprochene politische und wirtschaftliche Macht auch gegenüber dem Landesherrn. Denn dieser geriet gegenüber der Bürgerschaft auf Grund immer wiederkehrender Geldanleihen gerade im 15. und 16. Jh. in einen gewisses Abhängigkeitsverhältnis. So war es dem Rat in der Altstadt möglich seine Forderungen durchzusetzen. Eine völlig gleichberechtigte Stellung konnten die Bürger und Einwohner in der Neustadt erst nach 1815 mit der unter preußischer Herrschaft einsetzenden Gewerbefreiheit erreichen.